projekt mit sozialer Klebkraft
wenn jung und aLT in wilhelmsburg GEMEINSAM LEHMSKULpTUREN ERSCHAFFEN, wachsen dabei auch toleranz und das miteinander

Jedes Jahr aufs Neue entstehen in Hamburg-Wilhelmsburg riesige Skulpturen aus Lehm. Alle, die Lust haben, können mitbauen — ein partizipatives Angebot, as Toleranz stärken und Ausgrenzung entgegenwirken soll. Denn hier matschen Kinder, Alte, Geflüchtete oder Menschen mit Behinderungen gemeinsam. Die Figuren erzählen ihre Geschichten.
Hamburg-Wilhelmsburg, ein sonniger Nachmittag Ende August. Gegenüber des S-Bahnhofs erhebt sich in luftiger Höhe ein gewölbtes Zeltdach, zwölf Meter breit, 15 Meter lang. Unter den weißen Planen laufen Kinder zwischen Tischen, Bänken und Schubkarren voller Lehm hin und her, die Hände schmutzig, ihre Kleidung auch. Sie klatschen faustgroße Batzen des ockerbraunen Materials auf Figuren, die aus dem Boden zu wachsen scheinen. Klumpen für Klumpen. In ein paar Wochen werden hier, von Hunderten Händen geformt und in die Höhe getrieben, fünf Kunstwerke stehen – ein Gemeinschaftswerk, viel größer als die Kinder selbst.
Die Lehmbaustelle neben der S-Bahn ist eine Institution in Wilhelmsburg. Seit neun Jahren schlägt der gemeinnützige Verein Bunte Kuh sein riesiges Zelt im Sommer auf dem weiten, gepflasterten Bahnhofsvorplatz auf. Rund 6000 Kinder, die meisten von ihnen aus der Nachbarschaft, aber auch aus anderen Hamburger Stadtteilen, nehmen an der sechswöchigen Aktion teil. Sie bauen unter Anleitung von Architektinnen, Künstlern und Lehmbauexpertinnen an eigenen kleinen Skulpturen oder an den fünf ausgewählten Modellen, die im großen Maßstab nachgebaut werden – als begehbare Fabelwesen oder fantastische Gebäude, bis zu vier Meter hoch. Ein „Mitmach-Projekt mit hoher kultureller und sozialer Klebkraft“, so beschreibt der Verein sein Projekt. Alle sind willkommen, mitbauen kostet nichts.Seit 1986 organisiert der Künstler Nepomuk Derksen, 67, Lehmbaustellen, seit 2005 gemeinsam mit seiner Frau Karen, 61.
„Unsere Baustelle hat keine Zäune. Wir sind für alle offen. Vormittags kommen die angemeldeten Gruppen, aber nachmittags kannman hier einfach hereinlaufen.“ sagt Karen Derksen.
Im Sommer 2023 läuft das 52. Projekt der Vereinsgeschichte. Die Derksens haben gerade, wie jeden Mittag, mit dem Team zusammengesessen und gegessen, eine kleine Erholungs- und Reflexionspause inmitten voller Tage. Am Vormittag waren Schulklassen und Kitagruppen da, rund 150 Kinder. Gezielt lädt der Verein auch Initiativen für Geflüchtete und Organisationen für Menschen mit Behinderungen ein. Nepomuk Derksen rückt einen Tisch und drei kleine Bänke auf den grasbewachsenen Abhang neben der Baufläche.
Von hier aus hat man einen guten Blick auf die Besuchenden, die gerade konzentriert an ihren Entwürfen arbeiten. Es sind vor allem Kinder und Jugendliche verschiedener Herkunft, aber auch einige Erwachsene.
Am Vortag stand eine zufällig vorbeikommende Gruppe von Seniorinnen und Senioren in Rollstühlen vor der Baustelle – und wäre am liebsten gleich geblieben. Nepomuk Derksen lacht. „Die Matschphase hört ja nie auf“, sagt er. Wenn die alten Damen und Herren, deren Betreuerin sie inzwischen angemeldet hat, wiederkommen, wird Derksen sie bewusst an einen Tisch mit kleinen Kindern setzen.
Dann kneten und formen sie gemeinsam: „Das ist ein echter Jungbrunnen!“ Beim Bunte Kuh e. V. geht es in erster Linie um Begegnung. Viel zu selten, sagen die Derksens, kommen Jung und Alt, arm und reich, Menschen mit oder ohne Behinderungen in der Stadt miteinander in Berührung.
„Unsere Gesellschaft braucht partizipative Angebote, die Toleranz stärken und Ausgrenzung entgegenwirken – aber es gibt kaum Orte oder Räume dafür.“
Von Anfang an ist der Verein mit seinem Angebot in die Viertel gegangen, in denen „das Geld nicht so locker sitzt, wo die Bevölkerung sehr durchmischt ist“. Auf der Lehmbaustelle sitzen diese Menschen dann oft nebeneinander an den Biertischen und -bänken. Sie brauchen keine gemeinsame Sprache, um ins Gespräch zu kommen, ihre Figuren erzählen von dem, was sie beschäftigt. „Wir hatten hier einmal zwei syrische 17-Jährige, sie konnten kein Wort Deutsch“, erzählt Karen Derksen. „Aber dann haben sie den Krieg in ihrer Heimat nachgebaut: Panzer, Kampfflugzeuge, kaputte Häuser und Tote. Aus Lehm. So haben sie sich mitgeteilt.“
Schon die erste Delle in den Lehmklumpen gedrückt ist Teil einer Geschichte. Einer traurigen oder einen schönen. An den Modellen der Kinder, sagen Lehrkräfte, die mit ihren Klassen nach Wilhelmsburg kommen, könne man ablesen, wie es ihnen gehe. Viel besser als im Schulalltag, in dem immer wieder nach „richtig“ oder „falsch“ bewertet wird. Auf der Baustelle sind diese Kategorien überhaupt nicht wichtig. Hier drücken alle einfach das aus, was in ihnen ist.
Den Lehm, den sie auf ihrer Baustelle verwenden – 80 Tonnen waren es dieses Jahr – produziert der Bunte Kuh e. V. selbst. Nach eigener Rezeptur, an der er lange getüftelt hat. Nepomuk Derksen, der Kunst und Architektur studiert hat und aus einem bayerischen Pädagogen-Haushalt stammt, lernte die traditionelle Lehmbauweise auf Reisen in den Vorderen Orient kennen. Kunst, Architektur, Pädagogik: „Auf diesen drei Säulen beruht das ganze Projekt“, sagt Karen Derksen.
Menschen aus allen Kulturen kennen die Arbeit mit Knete, Ton oder Lehm. Eine Familie aus Afghanistan hat dem Team von Bunte Kuh vor ein paar Jahren gezeigt, wie man einen Tandoori-Ofen aus Lehm baut. Auch wir lernen ständig hinzu, sagen die Derksens.


Die Arbeit ihres Vereins verstehen sie als ressortübergreifend.
Bunte Kuh wirke mit seinen Baufestivals in vielen Bereichen, unter anderem im kulturellen und ökologischen, aber auch in der Architekturpädagogik und der interkulturellen Kommunikation. Am beglückendsten sei die Wucht, mit der sich auf den Baustellendie Gestaltungsfreude der Teilnehmenden Bahn breche, sagt Nepomuk Derksen.
Die Konzentration, die Vertiefung in eine Sache, die hier auch hyperaktiven Schulkindern möglich wird. „Die Pädagogik-Forschung nennt diesen Zustand ‚Flow‘. In dem Dauerrauschen von Ansprüchen und Informationen, in dem wir leben,brauchen wir solche Inseln dringend.“ Die Hände im Lehm, spüren die Kinder und Jugendlichen unter dem Zeltdach, dass sie etwas gestalten können – und ihre Umwelt verändern.
Nach fünf Wochen Bauzeit stehen ein sonderbares Elefantenwesen, eine fantastische Kreuzung aus Fisch und Drache sowie drei weitere meterhohe Skulpturen auf dem Wilhelmsburger Bauplatz. Kinder turnen durch die Bauten, klettern auf ihnen herum.
Für eine Ausstellungswoche lang sind die Lehm gewordenen „Sehnsüchte und Potenziale des Menschen“ zu besichtigen, so drückt es Nepomuk Derksen aus. Viele Kinder kommen mit ihren Eltern und zeigen ihnen, wie hier Dinge entstanden sind, die niemand alleine hinbekommt. Und danach?
Wird alles wieder abgerissen. Der Lehm wird recycelt für das kommende Jahr. Die Kinder kämen gut klar damit, sagt Karen Derksen. „Wir Erwachsenen verstehen viel schwerer, dass Tun wichtiger ist als Behalten. Aber wenn wir den Kindern sagen ,‚in deinem Klumpen Lehm stecken schon tausend andere Geschichten‘ – dann finden sie das super.“
Text: Christiane Langrock-Kögel, KOMBÜSE
Bunte Kuh e. V.
Umweltbildung, Begegnung, Partizipation
Foto mittig: BunteKuh, Karen Derksen